Deutschland öffnet Grenzen für Osteuropäer
Gleiche Rechte auf dem deutschen Arbeitsmarkt
In Deutschland fallen heute Sonntag die Hürden für Zuwanderer und Beschäftigte aus Osteuropa. Über die Folgen für den Arbeitsmarkt gehen die Ansichten weit auseinander.
Der 1. Mai 2011 hat sieben Jahre lang in Deutschland als das meistgefürchtete Datum im politischen wie wirtschaftlichen Kalender gegolten. An diesem Tag laufen die Einschränkungen für die Zuwanderung aus den acht osteuropäischen Staaten aus, die 2004 der Europäischen Union beitraten. Ab sofort haben Polen, Balten, Tschechen, Ungarn, Slowaken und Slowenen auf dem deutschen Arbeitsmarkt die gleichen Rechte wie bisher schon Briten, Franzosen, Spanier und alle anderen Westeuropäer. Sie dürfen sich jetzt in Deutschland frei niederlassen und können arbeiten, wo sie wollen, ohne umständlich eine Ausnahmegenehmigung beantragen zu müssen.
Sieben Jahre nachdem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in der EU für Deutschland eine Sonderregelung durchsetzte, ist die Angst vor dem Ansturm aus dem Osten spürbar zurückgegangen und der Erwartung gewichen, dass Fachkräfte aus Osteuropa die Lücken schliessen werden, über welche die deutsche Wirtschaft seit langem klagt. Vor sieben Jahren hatte die Arbeitslosenquote in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht; im April 2011 jedoch wurde die niedrigste Arbeitslosenzahl seit 1992 gezählt. Der Arbeitskräftemangel hat auch damit zu tun, dass Deutschland Einwanderer- und Auswandererland zugleich ist. Hochqualifizierte werden in Westeuropa wesentlich besser bezahlt.
Klaus Zimmermann vom Institut der Zukunft der Arbeit spricht nur aus, was die meisten seiner Wissenschafterkollegen sofort unterschreiben würden. Schröders Bremsmanöver habe zu einer doppelten Fehlsteuerung geführt, sagt er. Die gut ausgebildeten, jüngeren Fachkräfte, Ingenieure und IT-Spezialisten etwa, seien nach Grossbritannien und Irland gegangen, die damals ihre Arbeitsmärkte sofort geöffnet hatten. Die gering Qualifizierten seien nach Deutschland gekommen.
Die Prognosen klaffen weit auseinander. Vor allem Politiker stapeln gerne tief. So schätzt die Berliner Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, dass jährlich etwa 100 000 Osteuropäer nach Deutschland kommen werden. Die Bundesagentur für Arbeit erwartet dagegen 140 000 Neuankömmlinge pro Jahr.
Krystina Iglicka, eine Warschauer Migrationsexpertin, ist zurzeit ein beliebter Gast in den deutschen Medien. Sie sieht bereits in den ersten anderthalb Jahren rund eine Million Polen ihre Koffer packen, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Umstritten ist, ob es Polen weiter nach Grossbritannien oder auch ins krisengeschüttelte Irland zieht. Iglicka ist sicher, dass ihre Landsleute am liebsten nach Deutschland kommen. Von dort aus hätten sie es nicht weit nach Hause und könnten auf ein Netzwerk von Verwandten und Bekannten zurückgreifen.
Der Bedarf an Fachkräften ist gross. An der Spitze liegt die Automobilindustrie. Allein Volkswagen plant 6000 Neueinstellungen, Daimler 4000, dann folgen Lufthansa und Siemens. Die Ökonomen argumentieren denn auch, dass deutsche Arbeitnehmer sich um ihre Arbeitsplätze nicht zu ängstigen brauchten.
Der frühere Vizepräsident der Weltbank, der Niederländer Jo Ritzen, weiss aus eigener Erfahrung, dass nach der Öffnung des Arbeitsmarktes kein Niederländer seinen Job verlor. In Deutschland, so glaubt er, werde dies nicht anders sein. Nur die Gewerkschaften und Teile des Handwerks sind skeptisch. Die Arbeitnehmervertreter haben die Betriebsräte aufgefordert, genauer hinzuschauen, wenn osteuropäische Beschäftigte in den Unternehmen auftauchen. Sie wittern trotz den in vielen Branchen eingeführten Mindestlöhnen die Gefahr von Lohndumping. Einen schlechten Ruf hat vor allem der Dienstleistungsbereich. Im Baugewerbe beispielsweise sind Fälle ausländischer Unternehmen bekannt, die Schein-Selbständige für Hungerlöhne beschäftigten und einheimischen Firmen auf diese Weise die Aufträge wegschnappten.
Gern wird das Beispiel Schweden bemüht, das darüber klagte, dass Dienstleister ihre Mitarbeiter in Irland anmeldeten, um die hohen schwedischen Sozialausgaben zu sparen.
Die Polen machen sich andere Sorgen. Sie sehen die besten ihrer Fachkräfte und das Pflegepersonal ihrer Spitäler nach Westen abwandern. Die entstehenden Lücken sollen alsbald von Pflegern aus der Ukraine und Weissrussland geschlossen werden.
http://www.nzz.ch/nachrichten/po…1.10435011.html