- Offizieller Beitrag
Ich habe es lange nicht geschafft, aber es lag mir doch am Herzen.
Wir hatten in dem Thema um Розрита Могила - kleine Geschichte der Ukraine kurz das Thema angeschnitten, dass Zarin Katharina seinerzeit die ursprünglich zwischen Khmelnytskyj und dem russischen Reich vereinbarte ukrainische Eigenständigkeit kassiert hatte. Das möchte ich gern noch einmal aufgreifen und mit ein paar mehr Fakten füttern:
Na aber so einseitig darf dies dann aber auch nicht gesehen werden dem ging einiges voraus ! Warum die Selbstbestimmung kassiert wurde.
Ich überspringe hier ein wenig, aus meiner Sicht ist der interessante historische Zeitpunkt das Abkommen zwischen Khmelnytskyj und dem Zaren Alexander:
Bogdan Chmielnicki, umstrittener ukrainischer Kosakenführer (Hetman) erhebt sich gegen Polen: behautet eine Weile eigenes Kosaken Königreich in Europa, gleidert sich dann (was ihm als Verrat ausgelegt wird) in die moskowitische Staatsstruktur ein.
Zunächst einmal muss erwähnt werden, dass es bei Khmelnytskyj's Aufstand um mehrere Aspekte ging: der orthodoxe Glaube (den man mit Russland teilte), die Ablehnung des europäisch-feudalen Polens und seines Hegemonie-Anspruchs über die heutige Ukraine und natürlich Machtinteressen der lokalen Herrscher.
Ich möchte hierbei gern dem "Verrat" zumindest teilweise widersprechen. Zu jenen Zeiten galt Russland als befreundete Nation. Dass der Beitritt zum russischen Reich für die Ukraine so unvorteilhafte Folgen haben würde, war damals nicht vorherzusehen. Nicht umsonst bezeichnet Shevchenko in seinem Gedicht auch Khmelnytskyj als "töricht", nicht als "verräterisch".
Es gibt einige interessante Fakten zur Gesellschaftsordnung in der heutigen Ukraine zu der Zeit:
ZitatWährend der stürmischen Jahre von 1648 bis 1656 schlossen sich Tausende von Bürgern, Bauern und orthodoxen Adligen den Kosaken an. Nach einem unvollständigen Zensus von 1654 gehörte etwa die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung zu den Kosaken. Wenn ein Bauer oder Bürger auf eigene Kosten Militärdienst leisten konnte, war es für ihn nicht schwierig, sich bei einem Kosakenregiment registrieren zu lassen und so in den Genuß der damit verbundenen Privilegien zu gelangen, zu denen das Recht auf Landbesitz, auf Steuerbefreiung sowie das aktive wie das passive Wahlrecht bei den Kosakenoffizierwahlen gehörte. Ein Kosake, der es sich nicht länger leisten konnte, sich selbst auszurüsten, oder der des Kämpfens überdrüssig geworden war, kehrte im allgemeinen in den Bauern- oder Bürgerstand zurück. Unmittelbar nach 1648 waren also die Grenzen zwischen den Ständen extrem durchlässig. Eine egalitäre Gesellschaft, wie sie in der Ukraine verbreitet war, gab es nirgendwo sonst in Osteuropa.
Für die Bauern, die den Aufstand überlebt hatten, brachte der Sieg Chmel'nyc'kyjs bedeutende Verbesserungen. Mit der Vertreibung der Szlachta gewannen sie ihre persönliche Freiheit, das Recht, über ihr Eigentum zu verfügen, und das Recht auf freien Ortswechsel zurück.
(Quelle: Die Zeit der Het'mane (17.-18. Jahrhundert), Orest Subtelny).
Zu Khmelnytsky's Zeit war das Bildungsniveau der einfachen Bevölkerung weit höher als in Russland, beispielsweise war es üblich, dass Frauen lesen und schreiben konnten. Zudem war, wie oben schon angedeutet, das Gesellschaftssystem durchlässiger, Leibeigenschaft, wie die Regel in Russland, war nicht verbreitet. Das änderte sich wenig später zum Schlechten hin, indem die russischen Verhältnisse in die neuen Gebiete eingeführt wurden (ebenso wie es vorher die Polen getan hatten).
Weiter (selbe Quelle):
ZitatDie Städte hatten im Aufstand eine geringe Rolle gespielt, und ihr Status war im wesentlichen unverändert geblieben. Etwa ein Dutzend größerer Städte wie Kiev, Starodub, Cernihiv und Poltava behielten eine Selbstverwaltung mit einem gewählten Magistrat und dem Magdeburger Recht, und es gab kaum Kontakte mit dem von den Kosaken dominierten Umland.
Ich zitiere diesen Teil, weil das Bild, welches heute von der Ukraine verbreitet ist, das einer dörflichen Kultur ist, was aber trotz der Tatsache, dass der Kosakenstaat kein städtisches Phänomen war, zu der damaligen Zeit nicht zutraf. Die Bewegung der ukrainischen Kultur weg von den Städten hinein in den dörflichen Bereich war vor allem eine Folge der unter russischer Herrschaft systematisch durchgeführter Russifizierung, in deren Verlauf verstärkt Russen in den ukrainischen Städten angesiedelt wurden und gleichzeitig der ukrainischen Stadtbevölkerung nach dem Prinzip "Zuckerbrot und Peitsche" ein "Wechsel" zur russischen "Leitkultur" nahegelegt wurde.
Ein weiterer Aspekt, der schon früh das Verhältnis zwischen Ukrainern und dem russischen Reich trübte, war der vom russischen Reich mit Polen abgeschlossene Friedensvertrag von 1656, in dessen Folge die heutige Westukraine abgetrennt wurde und fortan zu Polen gehörte. Die Folge waren mehrere erfolglose Kriege der Kosaken gegen Polen, die das Ziel hatten, die ukrainischen Gebiete zurückzuerobern. Im Verlauf dieser turbulenten Zeiten kam es zum ersten mal verstärkt zu Konflikten mit dem eigentlich verbündeten Russland. Es kam 1658 zu einer Invasion russischer Truppen unter Führung von Aleksej Trubetskoj in die Ukraine, wo er einem Heer von Kosaken und verbündeten Tartaren unter der Führung von Ivan Vyhovskyj unterlag.
Im Jahr 1654, nachdem Vyhovskyj nach inneren Intrigen abdanken musste, kehrte Trubetskoj mit einem neuen Heer zurück und "handelte" mit dem 18-jährigen Jurij Khmelnytskyj einen "neuen Vertrag" aus. Diese neue Version war für die Ukraine extrem nachteilig. Er sah vor, dass in allen wichtigen Städten russische Garnisionen stationiert werden sollten, dass die Kosaken ohne russische Erlaubnis keine Kriege führen oder auswärtige Beziehungen unterhalten durften, Hetmane und hohe Offiziere nur noch mit russischer Billigung gewählt und ernannt werden durften. Dieser Vertrag hatte überhaupt nichts mehr mit dem Vertrag, den sein Vater 5 Jahre vorher ausgehandelt hatte, gemeinsam, und dieser Zeitpunkt wird gern als der erste große Verrat Russlands an der Ukraine betrachtet.
Kosakenhetman Mazeppa (meistbedichteter Kosaken-Chef von Byron bis Brecht) fällt von Moskau ab. Bündnis mit dem Schwedenkönig Karl XII. gegen Peter den Großen von Moskau. Niederlage in der Schlacht von Poltawa. Die ersten Kosaken in Sibierischer Verbannung.
Welches nun genau Mazepa's Motive für sein Bündnis gegen Zar Peter waren (er ist doch historisch eine sehr vielschichtige Figur), gibt es doch für diesen "Verrat" eine historische Konsistenz. Peter hatte die bereits vorher zu Ungunsten der Ukrainer modifizierten Bedingungen noch weiter verschlechtert, indem er sich schlicht nicht um die den Ukrainern eigentlich zustehenden Rechte scherte. Es gab also unabhängig von Mazepa eine große Menge von Menschen in der heutigen Ukraine, die lieber früher als später aus dem russischen Reich raus wollten. Das erklärt auch den Zulauf, die all die pittoresken Führer der damaliger Zeit mit Leichtigkeit gewinnen konnten.
Somit kommen wir ans Ende und gewissermaßen auch wieder an den Anfang unseres kleinen Ausflugs zurück. Hat Katharina nun recht getan, als sie die Autonomierechte der Kosaken kassierte?
Mein Geschichtsverständnis sagt dazu, dass dieser Schritt machtpolitisch logisch war, auch dass er kurzfristig betrachtet zu rechtfertigen war, aber eben nur, wenn man die Vorgeschichte, die eben erst zu der "Unzuverlässigkeit" der Kosaken geführt hatte, ignoriert.
Und hier sind wir auch an dem Punkt, wo ich mich immer wieder ärgere, wenn ich russische oder russifizierte Geschichtsschreibung lese. Es ist selbstverständlich von dem "Verrat" Mazepa's die Rede und von der "slawischen Brüderlichkeit", aber kein Wort von dem Unrecht, das das russische Reich seinem damals aus freien Stücken zu ihm gestoßenen Verbündeten getan hatte.
Shevchenko konnte in seiner Zeit selber gut beobachten, wie die Kolonie Ukraine von den Russen ausgebeutet wurde und der selber mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt kam, weil er - was damals verboten war - in ukrainischer Sprache Schriften verfasste und natürlich auch gegen die russische Herrschaft agitierte. Sein Urteil über Khmelnytskyj, demzufolge jener "töricht" gewesen war und der lieber hätte von seiner Mutter unter ihrem Herzen erstickt hätte werden sollen, um nicht später dieses große Unglück über viele Generationen seines Volkes zu bringen, ist aus meiner Sicht natürlich künstlersich überzeichnet, aber so verkehrt nicht.