- Official Post
Im Ukraine-Nachrichten-Forum wurde ein interessanter Kommentar zur historischen Beurteilung Stalins eingestellt:
Quote
Der Begriff Genozid (Völkermord), erinnert der Stanford-Historiker für russische und osteuropäische Geschichte Naimark, sei vom polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin 1944 geprägt worden. Lemkin befürwortete eine erweiterte Definition des Genozid-Begriffs, die auch Verbrechen gegen soziale, ökonomische und politische Gruppen einschließen sollte. In den ersten Entwürfen der UN-Völkermordkonvention seien diese Gruppen neben den ethnischen und religiösen erwähnt worden. Allerdings sorgten die Sowjetunion und ihre Verbündeten in der Uno dafür, dass sie in der Endfassung nicht auftauchten. Diese Beschränkung hält der Verfasser für unzeitgemäß.
Ich hatte dazu einen Kommentar geschrieben, den ich hier einfach mal hineinkopiere:
Tatsächlich ist Stalin zweifellos einer der schlimmsten Massenmörder des 20en Jahrhunderts, auch wenn die übliche "gebriefte" Argumentation von heutigen Kommunisten oder seit einiger Zeit auch von vielen Russen Stalins Grausamkeiten durch die besonderen Umstände durch den Aufbau des sozialistischen Systems und den Krieg mit Deutschland rechtfertigt und die Meinung vertritt, dass aufgrund "weniger niederer Motivation" Stalin und Hitler nicht gleichzusetzen seien.
In dem Diskurs um den Genozid-Begriff geht es aber eigentlich viel mehr um Begrifflichkeiten. Wenn unbestritten ist, dass Stalin ein Massenmörder ist (meine eigene Formulierung, kein Zitat!), ist er auch ein Völkermörder?
Der Journalist argumentiert nun in zwei Richtungen: eine Erweiterung des Genozidbegriffs wird nicht im UN-Sicherheitsrat durchsetzbar sein, weil Russland es nicht zulassen wird; außerdem - und das ist der interessante Aspekt - eine Opferrolle für die Ukraine (oder andere Opfer des Stalin-Regimes) nützt dem Opfer nicht, es steht eher im Wege, und, wie kürzlich von Erhard Eppler in [1] so treffend festgestellt, ist ein Selbstverständnis, das auf einer Opferrolle basiert, erfahrungsgemäß nur schwer friedensfähig.
Ich glaube (und hier verlasse ich den Kontext des Artikels), dass der Völkermord-Begriff tatsächlich nicht entscheidend ist. Wichtiger ist es, derartigen Massenmördern einen ihnen angemessenen Platz in der Geschichte zu geben und ihre Verbrechen nicht zu beschönigen oder zu verschweigen. Ob sich die Aggression gegen Völker oder gegen soziale Gruppen, reale oder eingebildete Klassenfeinde oder was auch immer richtet, sollte hier nicht zu einer künstlichen Unterscheidung oder Abstufung der Verbrechen im Vergleich mit anderen benutzt werden.
Ich finde es schade, dass Russland sich so schwer tut, Stalins Verbrechen historisch angemessen zu würdigen. Eigentlich hätte in den 90er Jahren eine große Chance bestanden, sich im Rahmen des Übergangs von einer kommunistischen und atheistischen zurück zu einer christlichen und der Tradition des alten Russland verbundenen Nation vom Ballast dieser Vergangenheit zu befreien, indem man sich klar von den Verbrechen der СССР distanziert hätte. Dies ist leider damals nur in Ansätzen geschehen und in Folge Stück für Stück wieder aufgehoben worden, bis man heute Stalin wieder als einen der größten Söhne des Landes betrachtet (man stelle sich mal vor, in Deutschland würde Hitler zu einem der größten Deutschen gewählt, oder die NPD würde in Dresden ein Hitler-Monument aufstellen!).
Ich hoffe, es ist trotz der gegenwärtigen Haltung Russlands möglich, dass den Opfern von damals eine historische Würdigung zuteil wird (freilich ohne dass eine "Opferrolle" im Sinne der oben genannten Aspekte entsteht) und ein Dialog ensteht im Geiste jenes berühmten Satzes: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung".